Das Ross und der Reiter

Buch: Gedichte - Zweites Buch
Sammlung: Vermischte Gedichte II

Die frische Quelle rinnt herab am Steingesenke,
Der Reiter führt sein Roß zur lang ersehnten Tränke.

Aus Vergesadern kühl die klaren Fluten fließen,
In heiße Adern sich des Pferdes zu ergießen.

Der Reiter schaut sein Roß mit innigem Vergnügen,
Wie es die Flut einzieht in lustgedehnten Zügen;

Und wie die Wellen ihm die Mähne wiegend spülen,
Und wie sie, eingeschlürft, das heiße Blut ihm kühlen.

Der Rappe möchte gern im durstenden Verlangen
Jeglichen Wasserguß, der ihm enteilt, empfangen;

Doch wie er unten trinkt, hört oben schon sein Lauschen
Den reichen Ueberfluß verheißend niederrauschen.

Der Reiter hat sich auch am Quelle kühl getrunken,
Steht nun im großen Blick des Hochgebirgs versunken.

Er starrt auf Alpen hin, ihr seliges Umnachten,
Das leise Zauberspiel des Lichtes zu betrachten:

Wie mit den fernen Höh'n die Strahlen dort verkehren,
Und sich in stiller Glut im letzten Kuß verzehren.

Und auf den Wandrer sinkt, den düstern, sehnsuchtkranken,
Der frische Seelenthau der himmlischen Gedanken.

Es strömt auf ihn herab die ew'ge Liebesquelle,
Es kann sein durstend Herz nicht fassen jede Welle;

Doch kann sein Herz auch nicht den ganzen Strom behausen,
So hört er oben schon die ew'ge Fülle brausen.

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