Vision

Buch: Gedichte - Zweites Buch
Sammlung: Gestalten

Vom Himmel strahlt der Mond so klar,
Greif aus, o Rappe, greif!
Im Winde fliegt des Reiters Haar,
Des Rosses Mähn' und Schweif.

Auf seinem Hut der Reiter trägt
Gemsbart und Federputz'
Ein schmerzliches Gelächter schlägt
Er auf und schwingt den Stutz.

Der Reiter sprengt um Mitternacht
Durch's Land Tyrol, allein;
Der Waldstrom braust und stürzt mit Macht,
Der Reiter holt ihn ein.

Die Schneegans dort hoch oben ruft
Ihr schnatternd Wanderlied,
Schnell zieht der Vogel in der Luft,
Der Reiter schneller flieht.

Schnell ist der Wolkenschatten Flucht,
Der Reiter schneller noch,
Kaum braust er in der tiefen Schlucht,
Schon auch am Gipfel hoch.

Wo das Gebein der Helden liegt,
Gibt er dem Roß die Sporn,
An den vergessnen Gräbern fliegt
Er wild vorbei im Zorn.
 
Am Wege dort ein Crucifix,
Des Unglücks Herberg', ragt,
Seitwärtsgewandten, finstern Blicks
Vorbei der Reiter jagt.

So reitet er durch's Land Tyrol,
Und ruft fo bang, so schwer:
"Mein schönes Land, leb' wohl! leb' wohl!
Du siehst mich nimmermehr!"

Das letzte Heldengrab zerreißt,
Der Reiter stürzt hinein,
Grab zu! Verschwunden ist der Geist
Von achtzehnhundert Neun.

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