An einem Grabe

Buch: Gedichte - Zweites Buch
Sammlung: Vermischte Gedichte II - Neue Folge

Kühl herbstlicher Abend, es weht der Wind,
Am Grabe der Mutter weint das Kind,
Die Freunde, Verwandten umdrängen dicht
Den Prediger, der so rührend spricht.
Er gedenkt, wie fromm die Todte war,
Wie freundlich und liebevoll immerdar,
Und wie sie das Kind so treu und wach
Stets hielt am Herzen, wie schwer dieß brach.

Daß grausam es ist, jn solcher Stund
Die Todten zu loben, ist ihm nicht kund,
Der eifrige Priester nicht ahnt und fühlt,
Wie er im Herzen des Kindes wühlt.
Es regnet, immer dichter, herab,
Als weinte der Himmel mit aufs Grab,
Doch stört es nicht den Leichensermon,
Auch schleicht kein Hörer sich still davon.
Die Todte hört der Rede Laut
So wenig als wie der Regen thaut,
So wenig als das Rauschen des Winds,
Als die Klagen ihres verwaisten Kinds.
Der Priester am Grabe doch meint es gut,
Er predigt dem Volk mit Kraft und Glut,
Verwehender Staub dem Staube,
Daß er an's Verwehen nicht glaube.

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